Alle hassen Johan

Alle hater Johan – N 2022, Regie: Hallvar Witzø, mit Pål Sverre Hagen, Ingrid Bolsø Berdal, 93 Min., OmU

Johan wurde seine Liebe für Explosionen quasi in die Wiege gelegt. Auf der rauen norwegischen Insel Frøya, wo er das Licht der Welt erblickte, ist seine Familie dafür bekannt, gerne zu Sprengstoff zu greifen. Während der Besetzung Norwegens durch die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg jagten Johans Eltern strategisch wichtige Brücken in die Luft – was den Nachbarn auf der Insel aber gar nicht recht war, wie sich später herausstellte. Als Johans Eltern einem - wie könnte es anders sein - Sprengunglück zum Opfer fallen, findet der Junge weiter Trost in Explosionen. Dynamit gibt ihm buchstäblich Kraft, ebenso das Wildpferd Ella und das nette Nachbarsmädchen Solvor, welches manchmal beim Zündeln dabei ist. Dann verändert ein weiterer explosiver Zwischenfall alles. Zeit seines Lebens kämpft Johan um die Anerkennung der Verdienste seiner Eltern, um seine Jugendliebe und nicht zuletzt um einen Platz in der Gesellschaft.
 Regisseur Hallvar Witzøs schwarzhumorige Komödie gewann bei den Nordischen Filmtagen Lübeck den Publikumspreis und wurde neben vielen Nominierungen bei den Amandprisen 2022 in der Kategorie „Beste Filmmusik” ausgezeichnet.

Manch einer drückt seine Gefühle mit schönen Worten aus, ein anderer mit Blumen. Johan greift zur Dynamitstange. Was gibt es Schöneres, als gemeinsam in Deckung zu gehen und, Händchen haltend, die Explosion aus sicherer Entfernung zu betrachten? Nur was, wenn der Sprengstoff früher hochgeht oder die Stange in die falsche Richtung geworfen wird? Bei „Alle hater Johan“ bekommt man es mit einer knallenden Komödie zu tun, die auch leise Töne anzuschlagen vermag. (Nordische Filmtage Lübeck 2022)

Alle hassen Johan erzählt mit Herz und mit viel schwarzem Humor die Geschichte eines liebenswerten Einzelgängers, der aufgrund seiner seltsamen Leidenschaft überall aneckt. (Kairos Filmverleih)

Julie – Eine Frau gibt nicht auf

A plein temps – Full Time - F 2023, Regie: Eric Gravel, mit Laure Calamy, Anne Suarez, Geneviève Mnich, 87 Min., frz. OmU

Nach der Trennung von ihrem Mann ist Julie in einen Pariser Vorort gezogen, wo sie sich alleine um ihre beiden Kinder kümmert. Jeden Tag bringt sie die zwei zu einer älteren Nanny und fährt danach nach Paris zu ihrem stressigen Job als Zimmermädchen in einem Luxushotel. Als ein Streik ausbricht, fällt der öffentliche Verkehr ständig aus, was das Pendeln zwischen Wohnort und Arbeitsplatz erheblich erschwert. Als Julie sich zudem noch für einen anderen Job in der Stadt bewirbt, gerät sie in einen Marathon zwischen elterlicher Fürsorge und Trouble-Shooting, der sie an den Rand ihrer Kräfte und ihre berufliche wie private Existenz in Gefahr bringt. 
Für seinen zweiten Spielfilm gewann Eric Gravel in Venedig den Regie-Preis in der Reihe „Orizzonti“, Hauptdarstellerin Laure Calamy wurde in derselben Sektion als beste Schauspielerin ausgezeichnet.

Dennoch steht und fällt in diesem Drama alles mit Laure Calamy. Sie ist in jeder Szene zu sehen und trägt den Film scheinbar mühelos. Calamy spielt eine Frau, die gelernt hat, gute Miene zum kapitalistischen Spiel zu machen. Wie ausweglos die Situation auch sein mag, ein ums andere Mal setzt Julie ihr umwerfendes Lächeln auf und marschiert unbeirrt weiter. Wie sehr sie sich dabei selbst verliert, vergisst und vernachlässigt, veranschaulichen kleine Momente, die leicht zu übersehen sind. (Falk Straub, www.kino-zeit.de)
 
Als Sozialdrama ist „Julie – Eine Frau gibt nicht auf“ auch deshalb von außergewöhnlicher Dichte, weil sich der Film nicht in Lehrbuchphrasen, sondern allein durch seine formale Dringlichkeit entfaltet. An Julies Beispiel wird das halsbrecherische Tempo der modernen Arbeitswelt eindringlich vorgeführt: Fehler fallen sofort auf die Urheberin zurück, und Hilfsstrukturen erweisen sich als höchst brüchig. Dabei vergisst der Film auch nicht die Herausforderungen als alleinerziehende Mutter, die Julie neben ihrer Arbeitswelt weitere Scharmützel bescheren. (Marius Nobach, www.filmdienst.de)
 
Anstatt ein herkömmliches Sozialdrama daraus zu machen, wie es bei dem Thema zweifellos naheliegend gewesen wäre, setzt der kanadische Regisseur und Drehbuchautor bei seinem zweiten Spielfilm auf Tempo. Julie – Eine Frau gibt nicht auf gewährt weder der Protagonistin noch dem Publikum nennenswerte Ruhepausen. Die wenigen Momente, wenn es doch mal danach aussieht, werden gleich wieder anderweitig torpediert. Überhaupt zeigt der Film auf, dass Planungen mehr oder weniger sinnlos sind. Jeder Tag im Leben der alleinstehenden Mutter besteht aus Mikro-Improvisationen, wenn man wieder irgendwas gerade schiefläuft, sei es bei der Arbeit, auf dem Weg dorthin oder privat. (Oliver Armknecht, www.film-rezensionen.de)

My Sailor, My Love

FIN/IR 2022, Regie: Klaus Härö, mit James Cosmo, Brid Brennan, Catherine Walker, 103 Min., engl. OmU

Howard, ein verwitweter Seemann, lebt allein in einem Haus an der Küste Irlands. Seitdem seine Frau vor Jahren im Meer ertrank, ist er mit der Zeit zu einem mürrischen Einzelgänger geworden. Weil er seinen Haushalt kaum noch bewältigen kann, stellt seine Tochter Grace die ebenfalls verwitwete Annie als Haushälterin ein. Howard lehnt diese Unterstützung zunächst ungnädig ab, doch Annies Charme und liebevolle Fürsorge betören das Rauhbein. Die beiden verlieben sich und genießen den gemeinsamen Alltag. Das führt allerdings zu Spannungen zwischen Vater und Tochter, denn bei Grace werden durch die neue Liebe ihres Vaters traumatische Erfahrungen aus ihrer Kindheit lebendig. Sie hatte sehr unter der Lieblosigkeit ihres Vaters gelitten und erlebt ihn nun mit Annies Kindern ganz anders. Zusätzlich kriselt es in ihrer eigenen Ehe.

Es sind zwei Erzählungen, die der finnische Regisseur Klaus Härö in „My Sailor, My Love“ parallel entwickelt und verbindet: die Geschichte einer Romanze im Alter mit der Krise einer Frau, die Schreckliches erlitten haben muss. Die Inszenierung nimmt sich sehr viel Zeit, den Alltag der Figuren zu beschreiben. Die Handlungsstränge wechseln mit ruhigem, gelassenem Tempo. (Michael Ranze, www.filmdienst.de)

Nordische Sensibilität trifft hier auf irisches Gefühl. Die Kombination ist schlichtweg wunderbar. „My Sailor, My Love“ ist ein ruhiger, zurückgenommener Film, der das Publikum nicht unterschätzt. Denn er führt nicht alles haarklein auf. Weder erzählt er, wieso Howard praktisch keinen Kontakt mehr zu seinen Söhnen hat, noch wird die Liebe zwischen Annie und ihm auf melodramatische oder kitschige Art und Weise gezeigt. Im Gegenteil: Sie entwickelt sich so sanft und unscheinbar, dass der Zuschauer gefordert ist, aufzupassen, um alle Nuance mitzubekommen. (Peter Osterried, www.programmkino.de)

“My Sailor, My Love” is at its best in these moments where it explores Grace’s pain—when it shows how it has poisoned her ability to relate to others, be it the other women in group therapy, her co-workers, her husband, or even herself. 
Unfortunately, because it also wants to be about the healing power of romantic love, Grace’s more nuanced storyline is shelved for long periods in favor of the more clichéd romantic beats of Howard and Annie’s story. And while their story wraps up in as mawkish a way as can be, at least "My Sailor, My Love" knows the final emotional beat belongs to Grace. It’s just too bad the filmmakers weren’t brave enough to make the whole film about her story, too. (Marya E. Gates, www.rogerebert.com)

Amsel im Brombeerstrauch

GEO/CH 2023, Regie: Elene Naveriani, mit Eka Chavleishvili, Temiko Chinchinadze, 110 Min., georg. OmU

Etero ist Ende vierzig, lebt in einem abgelegenen georgischen Dorf und betreibt eine eigene kleine Drogerie. Sie ist die einzige alleinstehende Frau im Ort. Aus Überzeugung hat sie nie geheiratet, und obwohl man ihr deswegen oft herablassend begegnet, war Etero stets zufrieden mit sich und ihrer Freiheit. Dann stürzt sie beim Brombeerpflücken, und der fast tödliche Unfall lässt sie neu auf ihr bisher unabhängiges Leben blicken. Unerwartet verliebt sie sich leidenschaftlich in ihren Lieferanten Murman, der jedoch verheiratet ist. So steht Etero plötzlich vor der Entscheidung, ob sie in einer Beziehung oder weiter allein und ungebunden leben möchte. Ist eine Beziehung das, was sie aus ihrem eintönigen Provinzleben herausholt? Oder wie kann sie als ältere Frau in einem patriarchalen Umfeld glücklich werden?
„Amsel im Brombeerstrauch“ wurde beim Sarajevo Filmfestival 2023 mit dem Hauptpreis und Hauptdarstellerin Eka Chavleishvili als beste Schauspielerin ausgezeichnet.

Über die Regisseurin Elene Naveriani:
Elene Naveriani ist georgische Filmregie- und Autorenperson und hat 2003 einen Abschluss in Monumentalmalerei an der Kunstakademie Tiflis gemacht. Nach einem anschließenden Master in Crytical Curatorial Cybermedia an der Hochschule für Kunst und Design Genf, hat Elene ein Studium im Bereich Film begonnen. Der Abschlusskurzfilm “Gospel of Anasyrma” (2014) wurde wegen Elenes unverwechselbarer Handschrift gefeiert. Danach folgten weitere Kurzspiel- und Dokumentarfilme die zahlreiche Preise erhielten, zum Beispiel “Lantsky Papas gestohlener Ochse” (2018), gewann beim Entrevues Belfort den Grand Prix Bester Kurzfilm. Naverianis erster Langspielfilm “Wet Sand” erhielt bei dem 74. Filmfestival Locarno den Preis für den besten Schauspieler. (Quelle: Presseheft)

In Georgien, einem Land, in dem die traditionellen Erwartungen an Frauen oft erdrückend und fest verankert sind, steht die Protagonistin Etero vor der großen Herausforderung, ihr individuelles Glück inmitten einer patriarchal dominierten Gesellschaft zu finden. Die Schriftstellerin Tamta Melaschwili und Filmregie- und -autorenperson Elene Naveriani geben einer Frau eine Stimme, die in herkömmlichen Erzählungen oft marginalisiert oder gar nicht erst gehört wird. (Sophia Derda, www.kino-zeit.de)

Elene Naveriani inszeniert Eteros eintönig wirkenden Alltag in ruhigen, fast schon lethargisch und depressiv wirkenden Bildern. Vielleicht es auch einfach der Mut zur Langsamkeit und Nacktheit ihrer Hauptdarstellerin Eka Chavleishvili sowie die Verweigerung jeglichen Glamours, die diesen Eindruck erzeugen bzw. verstärken. Chavleishvili nimmt sich als Etero zurück und zeigt eine Frau, die nicht den Drang verspürt, durch große Gesten oder ausgeprägtes Sozialverhalten auf sich aufmerksam machen und Kontakt zu anderen herstellen zu wollen. Allerdings verraten Eteros Augen regelmäßig ihre Gefühle; meisterhaft stellt Chavleishvili auf diese Weise immer wieder einen Kontrast zu Eteros ansonsten minimalen Gefühlsausdrücken her. (Maximilian Schröter, www.film-rezensionen.de)