»Kein Filmemacher hat sich so intelligent und formal gewagt mit den Widersprüchen und Traumata seiner Generation auseinandergesetzt wie Denis Villeneuve. (…) Villeneuves Arbeiten suchen stets nach gangbaren Wegen durch die Verwerfungen, Leiden und Schrecken des 21. Jahrhunderts. Die Auswahl seiner Themen – die Entscheidung einer Frau, Kinder zu haben, der Anschlag eines Massenmörders auf eine Universität in Montréal, ein Zwillingspaar, das die entsetzliche Wahrheit über seine Herkunft enthüllt – zeigt Villeneuve als unbeirrbaren, mutigen, harten und doch überraschend zärtlichen Meister filmischer Vorstellungskraft.« (Tom McSorley, Maple Movies 2011, 5. Festival des kanadischen Films, Kinemathek Hamburg/Metropolis Kino)

Denis Villeneuve, 1967 in Québec geboren, begann seine Filmlaufbahn 1990/91 mit drei semi-dokumentarischen Kurzfilmen. Auch wir beginnen die Retrospektive mit zwei Kurzfilmen aus den Jahren 1994 sowie 2008 und einem Dokumentarfilm, bei dem Villeneuve nur hinter den Kulissen mitarbeitete. Bis Ende April zeigen wir fünf von Villeneuves Filmen aus der Zeit vor seiner Karriere in Hollywood ab 2013. Ende Februar startet Teil 2 von DUNE unter seiner Regie – also eine gute Gelegenheit, sein Werk kennen zu lernen. 

Ausführliche Informationen zur Reihe gibt es hier: www.maplemovies.de.

Die Filme:

KURZFILME (CDN 1994, 2008) + CORNOUAILLES - Icewarrior (CDN 1994) - 6.2. + 7.2.
COSMOS (CDN 1996) - 20.2. + 21.2.
DER 32.AUGUST AUF ERDEN – Un 32 août sur terre (CDN 1998) - 5.3. + 6.3.
MAELSTRÖM (CDN 2000) - 19.3. * mit Einf. + 20.3.
POLYTECHNIQUE (CDN 2009) - 9.4. + 10.4.
DIE FRAU, DIE SINGT – INCENDIES (CDN/F 2010) - 23.4. + 24.4.

Präsentiert vom Bundesverband kommunale Filmarbeit e.V.
in Zusammenarbeit mit dem National Film Board of Canada und PHI, Montréal.
Unterstützt durch die Vertretung der Regierung von Québec in Berlin,
Société de développement des entreprises culturelles du Québec (SODEC)Téléfilm Canada und die Botschaft von Kanada in Berlin

Polytechnique

CDN 2009, Regie: Denis Villeneuve, mit Karine Vanasse, Maxime Gaudette, Sébastien Huberdeau, 77 Min., frz. OmU

Am 6. Dezember 1989 tötete ein Amokläufer insgesamt vierzehn Frauen an der École Poytechnique in Montréal. Denis Villeneuves mehrfach ausgezeichneter und viel diskutierter Film reflektiert die Tragödie aus den unterschiedlichen Blickwinkeln der Studierenden Jean-François und Valerié. Im steten Wechsel der Zeit- und Betrachtungsebenen gelingt so eine mutige, formal wie inhaltlich fordernde Auseinandersetzung mit einem willkürlichen Akt der Gewalt. Polytechnique wurde mit insgesamt neun kanadischen Genie Awards ausgezeichnet, darunter mit den Preisen für den Besten Film, die Beste Regie und die Beste Hauptdarstellerin.

In nüchternen, gleichwohl präzise komponierten Schwarz-weiß-Bildern folgt der Film zwei Freundinnen und einem Bekannten über den Campus, konstatiert ihr ratloses Entsetzen und die Unfähigkeit zu helfen. Der Film will nicht erklären, was ohnehin nicht zu klären ist, findet jedoch meisterhaft Bilder und Worte, die sich über die Realität erheben und diese künstlerisch verdichten. 
(Jörg Gerle, www.filmdienst.de)

»POLYTECHNIQUE« reflektiert den Einbruch verheerender – und bezeichnenderweise männlicher – Gewalt ins Alltagsleben in minimalistischer Ästhetik, in Schwarz-Weiß-Bildern von erstaunlicher Poesie. Ein Beleg dafür, wie Villeneuve klare Reflexion in emotionale Intensität zu übersetzen weiß. (Patrick Seyboth, www.epd-film.de)
 

Die Frau, die singt

Incendies - CDN/F 2010, Regie: Denis Villeneuve, mit Lubna Azabal, Mélissa Désormeaux-Poulin, Maxim Gaudette, 131 Min., frz. OmU

Eine generationsübergreifende Tragödie und die Geschichte zweier Frauen, deren Wege sich über den Tod hinaus verschränken: Nach dem Tod ihrer Mutter Nawal werden die erwachsenen Zwillinge Jeanne und Simon Marwan von Notar Lebel zur Testamentseröffnung geladen. Er überreicht den Geschwistern zwei versiegelte Briefe: Der eine ist an ihren unbekannten, längst tot geglaubten Vater adressiert. Das andere Kuvert ist für ihren Bruder bestimmt, von dessen Existenz sie bislang gar nichts ahnten. Nun verlangt der letzte Wille, dass Jeanne und Simon die Briefe überbringen. Da Simon sich dem Wunsch der entfremdeten Mutter verweigern will, reist Jeanne allein von Montreal in den Nahen Osten. In der ihr gänzlich fremden Heimat Nawals sucht sie nach Hinweisen und dringt trotz Widerstands immer tiefer in eine lang verschüttete Vergangenheit ein.
Parallel zu Jeannes Spurensuche zeigt Villeneuve in Rückblenden entscheidende Momente aus dem Leben der jungen Nawal, die sich in einem von Krieg, religiösen Konflikten und patriachaler Willkür verheerten Land zu behaupten versucht. Den schmerzlichen Fragen nach Schuld und den Grenzen menschlicher Leidensfähigkeit stehen dabei in Villleneuves außerordentlichem Werk ein resistenter Überlebenswille sowie die Fähigkeit zur Vergebung gegenüber.

Voller staunenswerter Überraschungen und Wendungen steckt der vielfach ausgezeichnete, für die Kategorie »Bester fremdsprachiger Film« oscarnominierte Incendies (deutscher Titel Die Frau die singt) des jungen kanadischen Filmemachers Denis Villeneuve. … Dass nur die Liebe Versöhnung stiften kann, ist hier keine sonntagsrednerische Floskel, sondern erschließt sich aus einem fulminant geschilderten Durchgang durch die Hölle. Die Hölle – das ist die fundamentalistische, nur mit Ressentiments operierende, gewaltgeile Betonierung von Freund- Feind-Schemata und die sich daraus ergebende Spirale von Hass, Gewalt und Vergeltung. (Rainer Gansera, www.epd-film.de)

„Die Frau, die singt“ ist ein eigenartiger Film, der persönliches Drama mit Krimielementen und sehr universellen Ausführungen zu Schmerz und Wut verbindet. Wenn zwei Geschwister die Spuren ihrer verstorbenen Mutter verfolgen, dann ist das gleichermaßen nah dran wie auch entrückt, ein emotionales, teils bizarres Plädoyer gegen einen sich verselbständigenden Hass. (Oliver Armknecht, www.film-rezensionen.de

Vergangene Filme dieser Reihe:

Maelström

CDN 2000, Regie: Denis Villeneuve, mit Marie-Josée Croze, Jean-Nicolas Verreault, Stephanie Morgenstern, 87 Min., frz. OmU

Die 25-jährige Bibiane ist Luxus gewohnt: Aufgewachsen in einem wohlhabenden Elternhaus, leitet sie tagsüber mehrere Boutiquen und verbringt die Nächte in exklusiven Clubs. Doch ihr privilegierter Alltag kann nicht über die große emotionale Leere in ihrem Leben hinwegtäuschen. Als Bibiane ungewollt schwanger wird und zudem finanzielle Probleme ihre berufliche Existenz gefährden, droht sie den Halt zu verlieren. Nach der Abtreibung lässt sie sich ziellos durch das Nachtleben treiben, bis einer der mit Alkohol und unverbindlichen Flirts ausgefüllten Abende ein jähes Ende findet: Angetrunken verschuldet Bibiane einen Verkehrsunfall, der einem Mann das Leben kostet. Sie begeht Fahrerflucht, aber die diffuse Erinnerung holt sie letztlich ein. Völlig verzweifelt will sie Selbstmord begehen, doch dann begegnet sie Evian. Er ist der Sohn des Unfallopfers, und plötzlich nimmt Bibianes Leben eine neue, unerwartete Wendung. Mit seinem gewagten Drama konnte Regisseur Denis Villeneuve Publikum und Kritik gleichermaßen begeistern, nicht zuletzt dank der faszinierenden Präsenz der Hauptdarstellerin Marie-Josée Croze.

In seinem zweiten Film „Maelström“ erzählt Denis Villeneuve abermals von Autounfällen und dem Kinderkriegen, lässt dabei das Reale und das Surreale miteinander verschmelzen. Tatsächliche Aussagen sind hier, trotz eines geschwätzigen Karpfens, nicht zu finden. Dafür aber schöne Bilder und eine Reihe sonderbarer Einfälle, welche den befremdlich emotionslosen Film sehenswert machen. (Oliver Armknecht, www.filmrezensionen.de)

Was bedeutungsschwer und ernst klingt, erzählt der Film im lockeren Plauderton ohne jede Schwere - was auch daran liegen mag, dass er von einem Fisch erzählt wird, der sein Ende auf dem Hackklotz erwartet. Als ihn dies ereilt, nimmt ein anderer Fisch die Erzählung auf, beginnt aber an einer anderen Stelle und aus einer anderen Perspektive, was den Film und seine wunderbare Hauptdarstellerin ein wenig durcheinander bringt. Ein Paradebeispiel für Fabulierlust und fantasiereiches Erzählen. 
(www.filmdienst.de)

Der 32. August auf Erden

Un 32 août sur terre - CDN 1998, Regie: Denis Villeneuve, mit Pascale Bussières, Alexis Martin, Richard S. Hamilton, Serge Thériault, 85 Min., frz. OmU

Die 26-jährige Simone schläft am Steuer ihres Wagens ein und überlebt wie durch ein Wunder einen schweren Unfall. Entschlossen, ihr Leben zu ändern, gibt sie ihren Job als Model auf und will ein Kind. Simones bester Freund, der Dauerstudent Philippe, soll sie schwängern. Er willigt ein, allerdings unter der Bedingung, dass sie dazu in die Wüste reisen. So landen Simon und Philippe in Salt Lake City, doch damit ist ihre Reise noch lange nicht zu Ende. Denis Villeneuves Spielfilmdebüt ist zugleich existentialistische Komödie und surreales Road Movie.

Ein sensibler Film über Selbstfindung und Liebe, geprägt von bildwirksamer Fabulierlust, einer intensiven Kameraarbeit sowie den beiden einfühlsamen Hauptdarstellern.(Rolf-Ruediger Hamacher, www.filmdienst.de)

Cosmos

CDN 1996, Regie: Denis Villeneuve, Jennifer Alleyn, Manon Briand, Marie-Julie Dallaire, Arto Paragamian, u. e. a., 99 Min., frz. OmU

Ein Episodenfilm mit sechs Handlungssträngen, die durch den Taxifahrer Cosmos verbunden sind. Im Verlauf eines Tages gibt er zunächst eine Pannenhilfe, dann chauffiert er eine Anwältin, einen Serienmörder, einen Filmregisseur und eine abendliche Kinobesucherin durch Montréal, ehe er schließlich ins Taxi eines Kollegen steigt. Villeneuve schrieb und inszenierte die Episode »Le Technétium«. In ihr lässt sich ein nervöser Filmregisseur von Cosmos zu einem Fernsehinterview fahren. Der Kabelsender strahlt sein Programm aus »Techno’s Hair Shop« aus. Wichtiger als die kommunizierten Inhalte sind die Frisuren der Interviewten und mit welchen Haarpflegemitteln Techno sie zustande gebracht hat. Auch der Filmemacher fällt ihm in die Hände …
Mit schwarzweißem New-Wave-Look, blondiertem Personal, »Cyborg«-Punk und kunstvollen Video-Installationen persifliert »Le Technétium« das Musikfernsehen mit den Mitteln eines versierten Clip-Regisseurs, als der sich Denis Villeneuve in den 1990er Jahren profilierte.

Denis Villeneuve – Rendezvous Québec

3 Kurzfilme, CDN 1994/2008, Gesamtlänge ca. 95 Min., OF

Next Floor
CDN 2008 Regie: Denis Villeneuve, 12 Min., engl. OF (o. Dialog)
Eine festliche Abendgesellschaft aus elf Personen verspeist genüsslich enorme Mengen appetitlich zubereiteten Wildbrets. Aufgrund ihrer Gewichtszunahmen knarzt der Fußboden verdächtig.

Rew Ffwd
CDN 1994, Regie: Denis Villeneuve, mit Alma Mockyen, Michael Smith, Massive Dread, Bronco Billy, 30 Min., frz./engl. OF
Ein Fotograf, der in Jamaika eine »Miss World« fotografieren soll, strandet mit seinem Auto in Trench Town, dem Armenviertel von Kingston. Von seinen Vorurteilen und Ängsten zunächst paralysiert, findet er Kontakt zu Bewohnern des Viertels, das vor allem durch seine Reggae-Musiker bekannt geworden ist. Während er auf die Reparatur seines Autos wartet, erläutern einige von ihnen dem Gast die Lebenswirklichkeit und -philosophie von Trench Town. – Das mit subjektiver Kamera gefilmte »Psychodrama« eines westlichen Beobachters, dem dabei die Augen aufgehen: »Stop your cinema! Wake up!«

Ice Warrior - Cornouailles
CDN 1994, Regie: Pierre Perrault, 52 Min., frz. OF
Unweit des Nordpols auf Ellesmere Island verfolgt eine wachsame Kamera hundertzwanzig Tage lang ein Tier mit Fell und Hufen, den uralten Moschusochsen, in Erwartung eines Kampfes dieses großen Bullen um die Vorherrschaft in seinem Revier. Im Licht des Spätsommers kommt es zum Kampf zwischen den pelzigen Streitern. »Anfang der 1990er Jahre reiste Denis Villeneuve als Teil eines kleinen Teams mit dem Québecer Filmemacher Pierre Perrault nach Ellesmere Island, um einen poetischen naturkundlichen Dokumentarfilm über Moschusochsen zu drehen, die ihre Reviere in der Tundra verteidigen. 
„›Es geht um die Frankokanadier und Amerika‹, erklärte mir Villeneuve mit einem Augenzwinkern. Er war nur da, um die Stative herbeizutragen und die Suppe zu kochen, aber die Erfahrung war einschneidend. Wie die Wüste hatte auch die Tundra einen tiefen psychologischen Einfluss auf ihn.“ (Helen Macdonald, The New York Times, 3.10.2021)