Der Spatz im Kamin

CH 2024, Regie: Ramon Zürcher, mit Maren Eggert, Britta Hammelstein, Luise Heyer, 117 Min.

Die Schwestern Karen und Jule sind maximal verschieden. Ihre beiden Familien kommen zu einem Geburtstagsfest in Karens Haus am See zusammen, in dem vorher die verstorbene Mutter gelebt hat. Auch nach ihrem Tod scheint sie drohend über allem zu schweben. Die Idylle der Landschaft täuscht: Karen ist gefühlskalt und herrisch, Jule beginnt, gegen ihre dominante Schwester zu rebellieren. Auch die Kinder lehnen sich gegen die bleierne Atmosphäre in der unübersehbar unglücklichen Familie auf. Erst stirbt ein Huhn, dann eine Katze, bald steuert alles auf Eskalation zu. Zwei Filme über dysfunktionale Familien hat Roman Zürcher bisher gedreht. „Der Spatz im Kamin“ bildet nach „Das merkwürdige Kätzchen“ (2013) und „Das Mädchen und die Spinne“ (2021) den Abschluss der Tier-Trilogie und wurde bei den diesjährigen Filmfestspielen von Locarno uraufgeführt.

„Der Spatz im Kamin“ ist so elegant und raffiniert wie seine beiden Vorgängerfilme und bisweilen auch ähnlich vergnüglich. Zugleich aber gelingt es Ramon Zürcher mit seinen hervorragenden Darstellerinnen und Darstellern, ein neues Gleichgewicht des Charmes und des Schreckens zu schaffen, das unter die Haut geht. Das ist keine kleine Leistung bei einem Film, der nur funktionieren kann, wenn er sich seiner Sache absolut sicher ist, nie auch nur ansatzweise zögert. Ein einziger falscher Ton, ein einziger verschenkter Moment und Der Spatz im Kamin würde zu seiner eigenen Parodie. Aber das passiert nicht. Ingmar Bergman und David Lynch dürfen stolz sein. (Michael Sennhauser, SRF)

„Leichthändig wechselt der Film, dessen statischen Einstellungen die Erstarrung Karens nach außen kehren, zwischen den einzelnen Mitgliedern und arbeitet ihren unterschiedlichen Charakter heraus.
Aber auch wenn die Filmemacher Ingmar Bergman und dessen bohrenden Seelendramen als Vorbild nennen, so strahlt „Der Spatz im Kamin" trotz der heftigen Konflikte durch die Offenheit Jules und Livs doch immer wieder Leichtigkeit aus und wird nie zum schweren und quälenden Drama. Ganz wesentlich liegt das auch an der Kunst Ramon Zürchers, der hier allein für Regie und Drehbuch verantwortlich zeichnet…(Walter Gasperi, film-netz.com)

Der verschwundene Soldat

ISR 2023, Regie: Dani Rosenberg, mit Ido Tako, Mika Reiss, Efrat Ben Tzur, 86 Min., OmU

Der israelische Soldat Shlomi Aharonov, 18 Jahre alt, desertiert während eines Kampfeinsatzes seiner Einheit im Gaza-Streifen. Nicht aus Überzeugung, sondern weil er seine Freundin Shiri noch einmal wiedersehen möchte, bevor sie zum Studieren nach Kanada verschwindet. Der Wunsch ist stärker als die Angst vor der Gefängnisstrafe, die Deserteur*innen droht. Aber erst, als er hört, dass die Armee-Führung ihn als vermisst gemeldet hat und davon ausgeht, dass er sich in palästinensischer Gefangenschaft befindet, bekommt er es wirklich mit der Angst zu tun. Dann erleidet sein Vater einen Herzinfarkt, und seine angebliche Entführung ist für die israelische Armee Anlass zu einem massiven Gegenschlag mit vielen Toten. Shlomi beschleichen Schuldgefühle. Der lange vor den jüngsten Ereignissen in Gaza produzierte Film feierte im August 2023 seine Weltpremiere auf den Filmfestspielen in Locarno.

Shlomi ist nicht der brave Soldat Schwejk, kein Schlitzohr mit Charme, sondern vor allem ein verwirrter, verängstigter junger Mann. Und wenn seine Flucht bisweilen an A bout de souffle von Godard erinnert, dann entfällt doch gleichzeitig das Element des alles oder nichts. Shlomi hat keinen Plan, er passt sich an, er versucht, zu überleben. (…) Bedrohung und Verantwortung – und die komplette Überforderung: Dani Rosenbergs The Vanishing Soldier geht seine Themen intelligent und damit auch unterschwellig politisch an, ohne explizit zu werden. Das kann man als Schwäche sehen. Oder als adäquate Form für ein grundsätzliches Dilemma. (Michael Sennhauser, Sennhausers Filmblog)

Regisseur Dani Rosenberg, der durch die Fernsehserie Milk & Honey (die unter anderem in Deutschland und Frankreich neu verfilmt wurde) bekannt wurde und mit seinem ersten Spielfilm The Death of Cinema and my Father Too beim Filmfestival in Jerusalem ausgezeichnet wurde, erzählt seine Geschichte als rasante, sich innerhalb von 24 Stunden abspielende Coming-of-Age-Story, in der Humor, Familiendrama und die Liebe genauso viel Platz haben wie (gesellschafts-)politische Realitäten.“ (Patrick Heidmann, Jüdische Allgemeine)

Pol Pot Dancing

D/N 2023, Buch, Regie: Enrique Sánchez Lansch, 93 Min., OmU

Auch Diktatoren haben Mütter. Oder auch Ziehmütter. Die Startänzerin Chea Samy am Königshof Kambodschas erzieht den kleinen Bruder ihres Mannes und ermöglicht ihm ein Studium in Paris. Jahre später, 1975, beginnt die Terrorherrschaft der Roten Khmer im Land. Tanz gilt nun als bürgerliche Kunstform und soll ausgerottet werden. Aus der Tänzerin Chea Samy wird eine Zwangsarbeiterin auf dem Land. Während ihrer Gefangenschaft erfährt sie, dass ihr Ziehsohn von einst Pol Pot ist, der Anführer der Roten Khmer, unter deren Herrschaft bis 1979 zwei Millionen Kambodschanerinnen und Kambodschaner umgebracht worden sind. Chea Samy war eine der wenigen Überlebenden, die noch die Kunst des klassischen Tanzes lehren konnte, was sie bis zu ihrem Tod 1994 tat. Sophiline Cheam Shapiro, eine ihrer Schülerinnen, pflegt die Tradition des klassischen kambodschanischen Tanzes kombiniert mit der Bewegungssprache George BaLanschines oder Merce Cunninghams und westlichen Dramenstoffen wie Mozarts Zauberflöte. Was klingt, wie der Plot zu einem unglaubwürdigen Historiendrama, ist tatsächlich der Stoff eines Dokumentarfilms. Den Kern des Films bildet ein seltenes Interview mit Pol Pot mit dem serbischen Fernsehen, das Nachleben der Diktatur wiederum wird in Tanzszenen erfasst. Seit 2008 gehört der klassische kambodschanische Tanz dem UNESCO-Weltkulturerbe an.

Regisseur Enrique Sánchez Lansch hat ein seltenes Interview in den Archiven des serbischen Fernsehens entdeckt. Pol Pot hat ansonsten fast nie mit Journalisten gesprochen und nur selten, wenn überhaupt, die Wahrheit über seinen Hintergrund erzählt. ... Proben und Szenen aus dem Tanz bilden den Kern von „Pol Pot Dancing“. Insofern kann der Film, indem er diese Kunstform würdigt, als eine Abrechnung mit dem Diktator betrachtet werden, der eine Form künstlerischen Ausdrucks fast auslöschte.“  (Matthew Carey, Deadline)

Ein Viertel der Bevölkerung wurde zwischen 1975 und 1979 umgebracht, in einem bizarren Wüten gegen alles Moderne, gegen Intellektuelle, Kunst und Kultur. Pol Pots Programm, häufig »Steinzeitkommunismus« genannt, war ein agrarisches Utopia, das allen »einfachen« Menschen ein glückliches Leben versprach. »Wir können aber nichts für jene tun, die uns nicht folgen«, sagt der freundlich lächelnde Diktator im einzigen Interview, das er jemals einem ausländischen Sender gab.
Dieses Interview sowie weiteres faszinierendes Archivmaterial, darunter filmische Zeugnisse des kambodschanischen Königshauses vom Anfang des vergangenen Jahrhunderts, verwebt »Pol Pot Dancing« mit einer Spurensuche im heutigen Kambodscha. (Patrick Seyboth, www.epd-film.de)

Sie umschmeicheln und umgarnen sich. Wie Flirts, fast schon wie abstrahierte Liebesspiele sehen die Choreografien in „Pol Pot Dancing“ von Enrique Sánchez Lansch oft aus. … Die zärtlichen, sanften Bewegungsfolgen der Tänze stehen in harschem Kontrast zum Thema des Films und auch der Performance, die in „Pol Pot Dancing“ einstudiert wird. Beide, Film und Tanz im Film, behandeln ein nur allzu gut bekanntes Ereignis aus der jüngeren kambodschanischen Geschichte, konzentrieren sich dabei allerdings auf einen wenig geläufigen Nebenaspekt. Es geht um die Terrorherrschaft der Roten Khmer zwischen 1975 und 1979 sowie den Völkermord, den die steinzeitkommunistischen Sozialexperimente dieser Zeit zur Folge hatten – ein nationales Trauma, das bis heute nicht einmal ansatzweise überwunden ist und das auch von „Pol Pot Dancing“ kaum abgeschwächt werden kann, wohl aber neu und überraschend kontextualisiert wird….
Wie konnte aus dem sensiblen, freundlichen jungen Mann, als der der junge Pol Pot im Nachhinein immer wieder beschrieben worden ist, ein über Leichenberge gehender Fanatiker werden? Diese Frage wird in „Pol Pot Dancing“ wieder und wieder gestellt. Abschließend beantworten lässt sie sich selbstverständlich nicht. (Lukas Foerster. www.filmdienst.de)

Black Dog – Weggefährten

CHN 2024, Regie: Guan Ho, mit Eddie Peng, Chu Bu Hua Jie, 116 Min., OmU

Lang war früher der Star einer Motorrad-Stuntshow und Gitarrist in einer Rockband. Dann wird der Neffe des lokalen Gangsterbosses getötet, Lang dafür verantwortlich gemacht und ins Gefängnis gesteckt. 2008, viele Jahre später, wird er entlassen und kehrt in seine Heimstadt am Rande der Wüste Gobi zurück. Alles hat sich verändert, die Gebäude verfallen, Hunde ziehen durch die Straßen. Die Olympischen Spiele in Peking nahen, und die örtliche Verwaltung will den freilaufenden Hunden Herr werden. Lang wird Hundefänger und fängt einen schwarzen Hund ein, der unter Tollwutverdacht steht. Bald entwickelt entsteht er eine Bindung zu dem Tier, das ebenso einsam und verloren ist wie er selbst. Gemeinsam begeben er und der Hund sich auf eine Reise, die Langs Leben verändern wird. „Black Dog“ wurde auf den 77. Filmfestspielen von Cannes mit dem Hauptpreis der Sektion „Un Certain Regard“ ausgezeichnet.

Nach seinem letzten Film The 800, der ein Zehnfaches der Kosten von mehr als 450 Mio. US-Dollar einspielte, feierte sein neues Werk Black Dog Premiere beim Filmfestival in Cannes in der Reihe Un Certain Regard und wurde dort mit dem Preis der Jury ausgezeichnet.

Die herzerwärmenden Aspekte des Films sind gerahmt von großen Momenten, starker Absurdität und einer Sentimentalität, die zeitweise an Takeshi Kitano erinnert. (Phil Hoad, The Guardian)

Begleitet von Panoramaaufnahmen zerbröselnder Stadtlandschaften (Kamera: Weizhe Gao), zeigt der Film die schrittweise Annäherung zwischen Lang und seinem tierischen Gefährten in vielen kleinen Gesten und Details, in denen sich Mensch und Tier immer mehr aneinander angleichen. Wenn Lang den Hund im Seitenwagen mitnimmt und dieser seinem Herrchen die Pfote auf den Arm legt, dann steckt darin so viel Zärtlichkeit und Mitgefühl für die Verlorenen und Suchenden, dass es einem ganz warm wird ums Herz. Und wenn man weiß, dass Eddie Peng seinen Leinwandgefährten nach den Dreharbeiten adoptierte, dann verstärkt sich dieses Gefühl nach einem still bewegenden Film noch mehr. (Joachim Kurz, www.kino-zeit.de)

Schon in der magischen Eingangssequenz streunen die Hunde wie Gespenster durch die Wüste. Sie leben überall in den Trümmern – gut könnten sie auch als Metapher für jene Menschen stehen, die vom System zu Objekten der Verwaltung reduziert wurden. Um die Stadt für einen Investor attraktiv zu machen, sollen unzählige Vierbeiner eingefangen und in Lagern interniert werden. … In der stilsicheren Mischung aus Roadmovie, Western und Slapstick verkörpert der aus Taiwan stammende chinesische Kinostar Eddie Peng einen Antihelden, der sich durch Schweigsamkeit seinem vierbeinigen Gefährten mehr und mehr anverwandelt. Mit kunstvollen Ellipsen erzählt der Regisseur eine Geschichte – indem er sie nicht erzählt. Fast jedes Bild ist ein raffiniert beobachtetes Tableau, das man sich ins Zimmer hängen möchte. So entwickelt der Film eine sogartige Wucht. 
Manfred Riepe, www.epd-film.de)