Winterreise

D/DK 2019, Regie: Anders Østergaard & Erzsébet Rácz, mit Bruno Ganz, Leonard Scheicher, Izabella Nagy, 88 Min., engl. OmU

Günther Goldschmidt und seine Frau Rosemarie haben es die längste Zeit ihres Lebens genauso gemacht wie viele andere Überlebende Nazi-Deutschlands: die Vergangenheit ruhen gelassen. Selbst als erwachsener Mann weiß Martin nur wenig über die Lebensumstände seiner Eltern vor ihrer Flucht in die Vereinigten Staaten im Jahr 1941. Als seine Mutter stirbt, wird das Schweigen jedoch unerträglich. Endlich konfrontiert er seinen Vater mit dessen Vergangenheit.
In ungewöhnlicher filmischer Hybridform zwischen fiktionalen Elementen der Inszenierung und dokumentarischer Aufarbeitung erzählt Anders Østergaard die wahre Geschichte eines jüdischen Musikerpaars aus Oldenburg. Der Film basiert auf der realen Familiengeschichte des US-Amerikanischen Radiomoderators Martin Goldsmith, der in Arizona aufwuchs und lange nicht wusste, was seine Eltern erlebt hatten, bevor sie 1941 entkamen. Der Film über die Familie Goldschmidt zeigt den wunderbaren Bruno Ganz in seiner letzten Rolle.

Spannende und berührende Filmerzählung über Identität, Musik, Liebe in und nach dunklen Zeiten.
(Ute Bolmer / dokfest-muenchen)

Es ist eine teils märchenhaft anmutende Liebesgeschichte und Hommage an die Musik, die es möglich macht(e), die Gegenwart zu vergessen, aber auch den Schmerz der Vergangenheit heraufzubeschwören.
(Anna Steinbauer / Süddeutsche Zeitung)

Chichinette – Wie ich zufällig Spionin wurde

D/F 2019, Regie: Nicola Alice Hens, 86 Min., frz./engl. OmU

60 Jahre lang schwieg Marthe Cohn alias Chichinette über ihre unglaubliche Lebensgeschichte und wie sie es schaffte, als Spionin die Nazis zu bekämpfen. Auch ihr Mann wusste nichts. Es begann, als Marthe Hoffnung, eine französische Jüdin aus Metz, im Krieg ihren Verlobten und ihre Schwester verlor. 1945 entschied sie sich, als Spionin für die Alliierten in Nazi-Deutschland für das Ende des Krieges zu kämpfen. Dann sprach Marthe 60 Jahre nicht mehr darüber. Heute, im Alter von 98 Jahren, bereist sie die Welt und vermittelt ihre Botschaft an Menschen aller Generationen: „Es ist immer möglich, gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen, auch unter den schlimmsten Umständen“.
Nicola Alice Hens` Film zeichnet, teils in animierten Bildern, Marthes Lebensweg nach und beobachtet, wie sie mit der liebevollen Unterstützung ihres Mannes Major mit fast manischem Eifer die Welt bereist. Denn viel Zeit bleibt in ihrem Alter nicht. Marthe hat Charakter und schnell wird klar, warum sie damals „Chichinette“ – kleine Nervensäge – genannt wurde. Mit Schlagfertigkeit und Charme fesselt Marthe ihr Publikum bei ihren Vorträgen.

Martha Cohn, eine gebürtige Jüdin, schleuste sich im Zweiten Weltkrieg nach Deutschland ein, um dort für Frankreich die Nazis auszuspionieren. Ein Dokumentarfilm erzählt jetzt, was sie selbst jahrzehntelang verschwieg. (CAPRICIO Kulturmagazin)

„Sie hat eine interessante Persönlichkeit, ihre Jugendlichkeit und Neugierde verbinden sich mit Altersweisheit und einer gewissen Besessenheit“, sagt Hens über Cohn, die aus einer orthodoxen jüdischen Familie namens Hoffnung stammt und zur 'abgebrühten' Spionin wuchs. (www.mz-web.de)

Über Nicola Alice Hens, Kamerafrau, Filmemacherin und Dozentin:
Der teil-animierte Dokumentarfilm “Chichinette – Wie ich zufällig Spionin wurde” ist ihr Langfilm-Debüt. Filme, die sie als Kamerafrau oder Regisseurin umsetzte, wurden weltweit gezeigt und ausgezeichnet, u.a. DOK Leipzig, Jerusalem Filmfestival, Reykjavik Filmfestival, Festival dei Popoli Florence, DOK NYC, Documentary Filmfestival Palm Springs, DocAviv, Dok.fest München, Filmfest Dresden. Mehr infos unter www.nicolahens.de

Schlaf

D 2020, Regie: Michael Venus, mit Sandra Hüller, Gro Swantje Kohlhof, Marion Kracht, August Schmölzer, 102 Min.

Im Hotel Sonnenhügel, tief in der deutschen Provinz, spielen sich schreckliche Dinge ab – zumindest in den Albträumen, von den Marlene immer wieder geplagt wird. Nachdem sie herausfindet, wo das Hotel ist, fährt sie spontan dorthin. Doch schon kurz nach der Ankunft am Ort ihrer schlaflosen Nächte erleidet sie einen Zusammenbruch und muss eingewiesen werden. Ihre Tochter Mona findet sie in einem komaähnlichen Zustand in der örtlichen Klinik. Mit den Traumtagebüchern ihrer Mutter ausgerüstet, bezieht Mona selbst ein Zimmer im Hotel, um herauszufinden, was passiert ist. Doch je tiefer Mona in der Geschichte des Sonnenhügels gräbt, desto mehr stößt sie bei den Hotelbesitzern auf Widerstand. Und als sie auch noch von denselben Albträumen heimgesucht wird wie ihre Mutter, vermischen sich Traum und Realität.

Deutsche Twin Peaks… Ruhig und dräuend entfaltet Regisseur Michael Venus in „Schlaf“ einen leisen Horror, der vor allem von Andeutungen, von kurzen Verschiebungen und Rissen in der Wahrnehmung lebt. Hier gibt es keine Zombies oder Monster, hier reichen Wildschweine und eine blasse blonde Frau für Gänsehautmomente. Ausstattung, Kamera, Kostüm, Szenenbild schaffen ein wunderbar stimmiges Setting, das nur vereinzelt unnötig aufgebrochen wird durch wild inszenierte Szenen mit Schwarzlichtfarben und Stroboskopgewitter. (Michael Brake / www.fluter.de)

Die Filmkritik beklagt oft den Mangel an deutschem Genrekino, an Thrillern, an Horror, an Action ohnehin. In diese Lücke stößt Michael Venus mit seinem Debütfilm „Schlaf“, der auf so überzeugende Weise Genremotive mit einer geradezu psychoanalytischen Analyse des deutschen Wesens verknüpft, wie man es im deutschen Kino selten gesehen hat… Immer mehr entwickelt sich „Schlaf“ zu einer dunklen Version des deutschen Heimat-Films, der nicht in malerischen Landschaften spielt, sondern im finsteren Unterbau der deutschen Geschichte, in dem die Vergangenheit nicht verarbeitet, sondern verdrängt ist. (Michael Meyns / www.programmkino.de)

Matthias & Maxime

CDN 2019, Regie: Xavier Dolan, mit Gabriel D'Almeida Freitas, Xavier Dolan, 119 Min., frz. OmU

Matthias und Maxime sind schon seit ihrer Kindheit die besten Freunde und können sich gar nicht vorstellen, getrennte Wege zu gehen. Doch Maxime will eine Veränderung, vor allem aber Distanz zu seiner psychisch labilen Mutter. Von Montreal nach Australien ist sein Plan. In den Wochen vor seiner Abreise wollen die Freunde den Abschied noch gebührend feiern. Auf einer Party werden sie von einer Filmstudentin kurzerhand als Schauspieler für ihr nächstes Projekt engagiert. Als sie dann herausfinden, dass sie sich vor laufender Kamera küssen sollen, wollen beide am liebsten hinwerfen und machen nur widerwillig mit.
Ungeahnte, unterdrückte Gefühle erwachen, die die Freunde vor Entscheidungen und scheinbar unüberwindbar Herausforderungen stellen. Denn während Matthias sich krampfhaft gegen seine Gefühle zu wehren versucht, wächst in Maxime mehr und mehr der Wunsch, seinem besten Freund näher zu kommen, bevor der Ozean sie endgültig trennt.

Eine innige Geschichte voller Sehnsucht und Zärtlichkeit. (The Guardian

Ein Film über jene Zeit, wenn die Jugend eigentlich schon vorbei ist, man aber gerne noch ein wenig daran festhalten will, weil diese Lebensphase so voller Freiheiten steckt und voller Möglichkeiten. (Joachim Kurz, www.kino-zeit.de

„Matthias & Maxime” is a beautiful portrait of male love, desire and friendship that understands the transitional points that exist in life. Creating a coming of age romance that ripples with tenderness and love. (cineramafilm.com

Nackte Tiere

D 2020, Regie: Melanie Waelde, mit Marie Tragousti, Sammy Scheuritzel, Michelangelo Fortuzzi, 83 Min

Irgendwo in der Provinz Brandenburgs und kurz vorm Abi leben fünf Jugendliche nach ihren eigenen Regeln. Alle scheinen ein wenig verloren, ohne Halt von den Eltern. Katja, Sascha, Schoeller, Laila und Benni leben in einer improvisierten Wohngemeinschaft in der Einzimmerwohnung von Benni. Es ist eher Notquartier als Zuhause, ihre Zärtlichkeiten werden schnell einmal zu Balgereien. Wohin es nach der Schule geht, ist noch ungewiss. Bis dahin sind die fünf eine eingeschworene Clique. Katja ist eine Kämpferin. Sie macht Jiu Jitsu und bringt das auch Kindern bei. Anders als Katja und Sascha wirkt Benni labil, wenn er Sinnfragen stellt und exzessiv trinkt. Schröder will einfach normal sein, seine Freundin Laila leidet unter ihrer gewalttätigen Mutter.
„Regisseurin Melanie Waelde beobachtet in ihrem stilsicheren Coming-of-Age-Film und Kinodebüt, wie sich die Figuren voneinander und ihrer Heimat abnabeln. Was die Zukunft bringt, ist offen, das Ende der Jugend ist aber so oder so unabwendbar.“ (Vision Kino)

Melanie Waelde erzählt von Katja und ihren Freunden (allesamt gut besetzt, angefangen mit Marie Tragousti in der Hauptrolle) auf eine direkte, unverstellte Weise, nahe dran mit einer Kamera, die fast so etwas wie eine weitere Person sein könnte. „Nackte Tiere“ fängt so einen Zustand ein, für den Problemdiagnosefilme über Unterschichtjugend nie so richtig ein Gespür entwickeln, während Melanie Waelde vor allem auf diese Sensibilität setzt, die nichts bestimmen will. (www.tip-berlin.de

Die Welt der Erwachsenen wird von den Bildern des Films im engen Fokus seines 4:3-Formats ausgeschlossen: Es gibt nur die brutale Nähe der Kamera zu den fünf Jugendlichen, allen voran zu Katja, die unaufhörlich dafür kämpft, sich und ihren Freunden den Weg in ein anderes Leben freizuschlagen. (Lars Dolkemeyer, www.kino-zeit.de)

Doch das Böse gibt es nicht

Sheytan vojud nadarad - IR/D/CZ 2020, Regie: Mohammad Rasoulof, mit Ehsan Mirhosseini, Shaghayegh, Kaveh Ahangar, 150 Min., farsi OmU

Heshmat ist 40 Jahre alt, führt ein ganz normales Leben und erledigt gewissenhaft seine Aufgaben als Familienvater. Was genau er arbeitet, ist unklar. Doch Heshmat ist immer mehr auf Medikamente angewiesen, um seinen Alltag bewältigen zu können. In vier lose zusammenhängenden Episoden erzählt Regisseur Raoulof von Menschen, deren scheinbar gewöhnliche Leben unmittelbar mit der Todesstrafe im Iran verbunden sind: Pouya muss einen Befehl ausführen, den er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann, während Javid sich den Hochzeitsantrag an seine Freundin Nana anders vorgestellt hatte – und schließlich muss Bahram seiner Nichte aus Deutschland anvertrauen, warum er als Arzt nicht praktizieren darf. Wie weit kann man seinen eigenen moralischen Ansprüchen genügen und gleichzeitig regimetreu Befehle ausführen?
Kurz nach seiner Auszeichnung mit dem Goldenen Bären der Berlinale 2020 wurde in Teheran eine einjährige Haftstrafe gegen Rasoulof aufgrund seines andauernden politischen Aktivismus vollstreckt. Das iranische Regime wirft ihm vor unter anderem vor, die „nationale Sicherheit zu gefährden“.

Ein brillanter Film über Gehorsam und Verweigerung. (Erik Kohn, Indiewire

Rasoulofs Filme sind keine Kritik mit breitem Pinselstrich. Sie stellen ganz gezielt eine Forderung auf: die nach der Freiheit der Ideen und Meinungen - und vor allem nach der Freiheit der Kunst […] gleichermaßen brachial wie poetisch. (Susan Vahabzadeh, Sueddeutsche)

Oft eindringlich, manchmal etwas aufgesetzt, stilistisch zurückhaltend, von einer unterschwellig, aber doch vehementen Kritik an den Missständen seiner Heimat ist der Film geprägt, der besonders dann überzeugt, wenn er betont nüchtern bleibt. (Michael Meyns, Programmkino)

Space Dogs

A/D 2019, Regie: Elsa Kremser & Levin Peter, FBW-Prädikat: besonders wertvoll, 91 Min., russ. OmU

Am 3. November 1957 wurde die Moskauer Straßenhündin Laika als erstes Lebewesen mit der Sputnik 2 ins All und in den sicheren Tod geschickt. Der Legende nach kehrte sie jedoch als Geist auf die Erde zurück und begleitet noch heute ihre Nachfahren auf den Straßen von Moskau. Kombiniert mit unveröffentlichten Filmbildern der sowjetischen Raumfahrt erzählen Filmemacher*innen Elsa Kremser und Levin Peter von Laika und von Streunern heute, die sich wie Laika alleine durchschlagen. Unglaublich nah und auf Augenhöhe folgt ihnen die Kamera von Yunus Roy Imer. Im Mittelpunkt steht die innige Beziehung zweier Straßenhunde, deren Alltag in Moskau ein schonungsloser Überlebenskampf ist. Sie scheinen sich perfekt an ihre Lebensumstände angepasst zu haben, anders als ihre zweibeinigen Mitbewohner.

Der pointierte Einsatz von Musik, das gelungene Wechselspiel zwischen Vergangenem in Form von Archivmaterial und Gegenwärtigem sowie Alexey Serebryakov, der als eine Art Gottwesen oder allwissender Erzähler das erzählerische Grundgerüst dieses Filmes bildet, erschafft ein eigenartiges Zwischenreich zwischen den Zeiten, das sich an vielen Stellen anfühlt wie ein Vorgriff auf jene nahe Zukunft, in der der Mensch nicht mehr das Zentrum der Welt ist, sondern vielmehr eine Art unter vielen anderen. (Joachim Kurz, Kino-Zeit.de

Ein gewagter Film, der neben seinen formalen wie erzählerischen Qualitäten eindrucksvoll beweist, dass das Kino immer noch ein Ort ist, an dem wir über uns und den Zustand der Welt nachdenken können und neue Impulse erfahren.” (FBW-Filmbewertung)

In der Summe ist ´Space Dogs´ ein großartig fotografierter Film über die Rückseiten von Moskau, über Bereiche der Stadt, in der die herrenlosen Hunde ihre Orte haben, über eine Koexistenz zwischen zwei Gattungen, die kaum Notiz voneinander zu nehmen scheinen…Die Farben, die Stimmungen, alles scheint durchwirkt von den jenseitigen Erfahrungen der Weltraumhunde, die vom Menschen und der Erde etwas gesehen haben, wovon sie uns nie erzählen werden. Der beste Freund des Menschen ist auch das größte Rätsel. (Bert Rebhandl, tip Berlin)

Bohnenstange

Dylda – R 2019, Regie: Kantemir Balagov, mit Viktoria Miroshnichenko, Vasilisa Perelygina, 139 Min., OmU

Leningrad 1945: Die Zerstörung durch die Besatzung der Nazis hat nicht nur Spuren an den zerschossenen Gebäuden hinterlassen. Auch die Überlebenden und Heimkehrer*innen haben mit Verlusten, Traumata und Armut zu kämpfen. Der hochgewachsenen Iya setzen die Erlebnisse des Krieges so sehr zu, dass sie an Angstzuständen leidet. Während einer ihrer Attacken kommt der Sohn ihrer Freundin Masha ums Leben. Ihn hatte sie während des Krieges in Iyas Obhut übergeben. Als Masha ihren Weg von der Front nach Hause findet, kann sie die Trauer um ihren Sohn nicht an sich heranlassen. Ein neues Kind soll her, es soll Leben in die triste Realität bringen, einen Hauch von Hoffnung. Da Masha selbst nicht mehr schwanger werden kann, muss Iya ihre Schuld begleichen und ihr bei der Beschaffung eines Kindes helfen.
Inspiriert von der Buchvorlage „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht” der belarussischen Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch.
„Beste Regie“ in Cannes.

Bohnenstange ist oft quälend schön. […] Die Bilder sagen, worüber die Figuren schweigen müssen. Manche Sätze hat ihnen der Krieg geraubt, der Film steht ihnen zu Seite und wird selbst Organ ihrer Sehnsucht. Was nicht sein darf, wuchert umso wilder, unbeherrschbar in alle Richtungen. Balagov ist eine große Liebesgeschichte gelungen. (Lucas Barwenczik / Kino-Zeit

Wie Iya und Masha sich in dieser hoffnungslosen Welt ohne jede innere oder äußere Ordnung behaupten, gemeinsam, gegen alle Widerstände, gehört zu den eindrucksvollsten Erlebnissen dieses Kinojahres. (Andreas Busche / Tagesspiegel)

„Bohnenstange“ ist ein ästhetisches Meisterwerk, eine psychologische Tour de Force. Das Krankenhaus versammelt gleich eine ganze Reihe bewegender menschlicher Verwerfungen in diesem starken Antikriegs-Film. [...] Die konstante Irritation – auch für die Kamera – des enormen Größenunterschiedes zwischen Iya und Mascha wird eine Randnotiz im Abgrund menschlicher Beziehungen. Und trotz dieser dunklen Seiten ist der großartige und geniale Film eine beglückende Kino-Sensation. (Günter H. Jekubzik / Programmkino)

Das perfekte Schwarz

D 2019, Regie: Tom Fröhlich, 75 Min.

Im ewigen All sollte eigentlich alles Vorstellbare existieren können - doch das perfekte Schwarz gibt es dort nicht. Denn diesen dunkelsten und tiefsten aller Schwarztöne gibt es nur in der Theorie, so Astrophsyiker Dr. Eike Günther. Oder befindet es sich, wie Dr. Antje Boetius annimmt, Leiterin des Alfred-Wegener-Instituts Bremerhaven, in den unerforschten Tiefen unserer Ozeane? Regisseur Tom Fröhlich porträtiert sechs Menschen und ihre persönliche Interpretation vom „perfekten Schwarz”. Kann es so etwas überhaupt geben? Vielleicht in dem künstlerischen Ausdruck von Trauer? Oder in der Tinte, mit der Tätowierer Gerhard Wiesbeck die Haut seiner Kund*innen färbt? Die Musikerin Katja Krüger ist mit der seltenen Gabe der Synästhesie gesegnet: Sie kann Farben in Verbindung von Musik wahrnehmen und diese so für Andere hörbar machen. Wie klingt das perfekte Schwarz?

Was ist das perfekte Schwarz? Die Antwort darauf ist vielleicht die, dass es keine gibt. Die Sinnsuche der 6 Protagonisten dient als Metapher für all die Momente, in denen wir die Antwort zu kennen denken.” neue-celluloid-fabrik

Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit

D 2019, Regie: Yulia Lokshina, 92 Min., Max-Ophüls-Preis für den besten Dokumentarfilm 2020

Bereits lange vor den neuesten Skandalen um Tönnies war klar: Die Fleischindustrie ist nicht nur grausam in ihrer Tierhaltung. Auch die menschenunwürdigen Lebensumstände der unterbezahlten Arbeiter*innen in den Schlachtereien ist ein Skandal. Warum also fällt es dem Großteil der Menschen so schwer, ihren Konsum herunterzufahren sowie den verantwortlichen Konzernen, die „Fleischproduktion“ neu zu gestalten? Abgesehen von Arbeiter*innenrechten und klimapolitischen Forderungen ist das Grundproblem vor allem das am maximalen Gewinn ausgerichtete Wirtschaftssystem: „Wir leben auf Kosten derjenigen, die wir ausbeuten, um möglichst billig leben zu können.“
Regisseurin Yulia Lokshina arbeitet am Forum Internationale Wissenschaft der Universität Bonn als Autorin und Publizistin. Vor drei Jahren begann sie mit ihrem preisgekrönten Abschlussfilm an der Hochschule für Fernsehen und Film München.

Feinfühlig, vom ersten Moment an fesselnd und vielschichtig öffnet der Film den Blick für ein großes Problem unserer Gesellschaft. […] Ohne zu predigen setzt Regeln am Band auf Beobachtung, Empathie und intellektuelle Durchdringung der Thematik. Durch seine filmische Versuchsanordnung gelingt der Regisseurin ein ganz eigener Zugang, der das Publikum aufgewühlt zurücklässt Jurybegründung. (Max Ophüls Preis 2020

Verzicht ist nie leicht, aber dringend notwendig, wie Yulia Lokshina in ihrer Dokumentation eindringlich zeigt. (Michael Meyns / Programmkino

Yulia Lokshina nimmt die Zuschauer:innen mit in die Verantwortung und verleiht ihrem Dokumentarfilm eine nachhaltige Wirkung, die über die Spielzeit von 92 Minuten hinaus geht. […] Besonders eindrucksvoll wirkt „Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“ durch seine Zurückhaltung. Dem Film geht es nicht um die Emotionalisierung von Einzelschicksalen, sondern eine umfassende Kritik der Verhältnisse. Dieser Ansatz mag den Zugang zum Film erschweren, verleiht ihm jedoch eine besondere Tiefe. (Lea Gronenberg, Filmloewin)

Der flüssige Spiegel

Vif-Argent – F 2019, Regie: Stéphane Batut, mit Thimotée Robart, Judith Chemla, 104 Min., OmU

Juste lässt sich scheinbar ziellos durch das Pariser Nachtleben treiben. In seinem glitzernden Hemd sieht er aus wie jeder andere junge Mann auf dem Weg in einen Club oder zu einem Rendezvous. Doch er ist ein Geist, unsichtbar für die Lebenden. Juste soll den Menschen mit ihren letzten Erinnerungen den Weg ins Jenseits erleichtern. Während er in diesem vagen Zustand zwischen zwei Welten schwebt, hat er jeglichen Bezug zu seiner Vergangenheit verloren. Nur im Wasser fühlt er sich geborgen, irgendwie heimelig. Eines Tages trifft Juste auf Agathe. Sie scheint ihn zu erkennen, denn er sieht einem jungen Mann aus ihrer Vergangenheit sehr ähnlich. Die beiden kommen sich schnell näher, doch bleibt der Abgrund zwischen Lebendigem und Vergangenem unüberbrückbar. Gleichzeitig wird Juste durch die Begegnungen mit Agathe immer mehr bewusst, wer er einst war.

„Der flüssige Spiegel“ ist ein Film in der Schwebe, in dem vieles angenehm vage bleibt. Man kann sich in diesem Roadmovie verlieren auf den Straßen zwischen Leben und Tod, zwischen Sehnsucht und Wirklichkeit und weiß nie genau, wo man ist, wo man sein sollte, wo man sein will. (Andreas Fischer / Weser-Kurier

[…] ein Werk voller Melancholie und Poesie, ein versponnenes, philosophisch angehauchtes Märchen, bei dem Anfang und Ende eins geworden sind. (Oliver Armknecht / Film-Rezensionen)

Regisseur Stéphane Batuts Debütfilm ist eine postmortale Coming-of-Age-Erzählung […] ein magisches Patchwork aus Märchenmotiven, mythischen Verweisen und parallelen Wirklichkeiten. (Claudia Lenssen / taz)