Zweite Chance

Viele Filme sind schneller wieder aus dem Kino, als es dem Publikum lieb ist. Hier kriegen Filme und die Zuschauer*innen, die sie verpasst haben, ihre zweite Chance auf eine Begegnung im Kino.

Sie haben eine Film verpasst? Dann schreiben Sie uns Ihren Filmwunsch gerne an info@city46.de oder nutzen unser Gästebuch im Kino.

Never Rarely Sometimes Always

USA/GB 2020, Regie & Drehbuch: Eliza Hittman, mit Talia Ryder, Sidney Flanigan, 101 Min., OmU

Die 17-jährige Autumn ist ungewollt schwanger. Aufgewachsen im Arbeitermilieu des ländlichen Pennsylvania, verlief ihr Leben bisher ohne Höhen und Tiefen. Da in ihrem Bundesstaat ein Abbruch nur mit Zustimmung der Eltern möglich ist, will Autumn in New York Hilfe suchen. Dort gibt es Kliniken, die ihr bedingungslos helfen werden. Ihre Cousine Skylar, mit der sie im gleichen Supermarkt jobbt, steht Autumn auf dieser Reise zur Seite.
Fast dokumentarisch fängt Eliza Hittman ein, wie die jungen Frauen ihren Weg in der turbulenten Großstadt finden. Mit Gesten und Blicken schaffen es Sidney Flanigan und Talia Ryder in ihrem Debutfilm, das Unausgesprochene sichtbar zu machen. Abgesehen von ihrer herausragenden Schauspielleistung, ist es auch Hélène Louvarts exzellente Kameraarbeit, die dicht bei den beiden Freundinnen bleibt und voller Zuneigung ihre Geschichte spiegelt. Ihre Bilder lassen das ruhige Drama lange nachwirken. Eliza Hittman erhielt für ihr meisterhaftes „Alltagsdrama“ auf der Berlinale 2020 den Silbernen Bären.

Ein Alltagsdrama nennt Hittman ihren Film. Es trifft mitten ins Herz. Da ist zunächst das Thema. Die Idee dazu kam Hittman 2012. Damals las sie von Savita Halappanavar, der in Irland nach einer unvollständigen Fehlgeburt eine Abtreibung verweigert wurde und die daraufhin an einer Blutvergiftung starb. In Irland, erfuhr Hittman, reisten Frauen, die abtreiben wollten, für einen Tag nach London. Die Filmemacherin fragte sich, wie eine solche Reise wohl aussähe, und recherchierte, dass in ihrer Heimat, den USA, jede fünfte Frau mehr als 50 Meilen fahren muss, um einen solchen Eingriff vornehmen zu lassen. In ländlichen Gegenden ist es sogar mehr als die Hälfte aller ungewollt Schwangeren. (Wenke Husmann, www.zeit.de)

Der ganze Film ist ungemein klar erzählt, jede Emotion dieser Geschichte wird präzise herausgefiltert, ohne dass sich NEVER RARELY SOMETIMES ALWAYS in Melodramatik verliert. Vielmehr gibt es sehr genau beobachtete Momente voller Humor und Zärtlichkeit, voller Trauer und Schmerz. Dieser Film ist kein „Problemfilm“, Autumns Abtreibung ist kein bloßer Plot-Device, keine überlebensgroße Entscheidung oder Wendepunkt in ihrem Leben. Die Entscheidung wird mit dem nötigen Ernst abgehandelt, aber sie wird nicht skandalisiert. Es geht nicht um die Moral, es geht um den Prozess: die gesetzlichen Bedingungen, die Hindernisse, die medizinischen Untersuchungen, die immer wiederkehrenden Fragen. (Sonja Hartl, www.kino-zeit.de)

Auch die Gefährdung, der beide im nächtlichen New York ausgesetzt sind, ist nur durch Andeutungen jederzeit spürbar. Eliza Hittman muss erstaunlich wenig ausformulieren, um das toxisch Männliche und das herrschende System des Patriarchats auf der Straße verstehbar zu machen, in dem sich zwei junge, unbedarft erscheinende Mädchen permanenter Sexualisierung ausgesetzt sehen. Auch wird niemals thematisiert, wie es zu dieser Schwangerschaft kam – die Positionierung der Figuren in die gezeigte Welt bietet Antwort genug. (Jurybegründung, FBW-Prädikat: besonders wertvoll)