L’immensità – Meine fantastische Mutter
Rom in den 1970er Jahren: Familie Borghetti ist gerade in ein schickes neues Apartment mit Aussicht auf den Petersdom gezogen. Doch das ändert nichts daran, dass Clara in einer lieblosen Ehe gefangen ist. Wenn der Vater im Haus ist, herrschen Ordnung und Tristesse. Doch Clara und ihre drei Kinder sind eine eingeschworene Gemeinschaft. Mit überschwänglicher Fantasie und Liebe macht die Mutter ihren Alltag ein wenig bunter, wird deswegen aber auch schräg angeguckt. Die zwölfjährige Adriana hat zwar eine besondere Beziehung zu ihrer Mutter, fühlt sie sich selber jedoch von niemandem so richtig wahr genommen. Während die Eltern zunehmend streiten, beginnt Adriana, sich in der neuen Nachbarschaft als Junge vorzustellen. Als Andreas verliebt er sich in ein Mädchen aus dem Arbeiterviertel. Das fragile Band, das Familie Borghetti gerade noch zusammenhält, droht zu zerreißen, als Clara in eine Klinik eingewiesen wird.
Regisseur Emanuele Crialese erzählte bei der Premiere des Films2022 in Venedig, selbst ein Transmann zu sein und von seiner Mutter Unterstützung im Prozess der Transition erfahren zu haben. Bei der Premiere gab es lange Standing Ovations.
Die Identitätssuche von Adri, die Verlorenheit ihrer Mutter – Emanuele Crialese inszeniert das nie bevormundend, sondern behutsam, zart, mit großen Filmbildern. Berückend die beiden Hauptdarstellerinnen Penélope Cruz und die herausragende Luana Giuliani. "L’immensità" ist ein wunderbarer Film. So wahr wie unsere Träume, so schön und traurig wie das Leben.
(Bericht in ttt - titel thesen temperamente vom 11.09.2022)
Crialeses spielerische Anleihen bei Realismus und Neorealismus mitsamt den Ausflügen ins Fantastische scheinen vor allem am Erschaffen von Atmosphären interessiert zu sein. Auch „L’Immensità“ erzählt weniger eine Geschichte, sondern beschwört eine zwischen traumhafter Unwahrscheinlichkeit und bedrückender Greifbarkeit flirrende Stimmung. Darin ähnelt er jenen Kindheitserinnerungen, die sich aus flüchtig betrachteten Fotos, lange angestarrten Tapetenmustern und Fernsehsendungen, widerwillig hinuntergewürgten Mahlzeiten und kurzen, ins Ewige hineinverklärten Momenten der Zärtlichkeit und des Überschwangs zusammensetzen.
(Cosima Lutz, www.filmdienst.de)
Return to Seoul
Freddie wurde als Baby von französischen Eltern adoptiert und hat keine Erinnerungen an ihr Geburtsland Südkorea. Trotzdem ist es ein unweigerlicher Teil ihrer Biographie und Identität, untrennbar mit ihrer Person verbunden ist, und doch so fern und fremd. Entschlossen, der eigenen Herkunft auf den Grund zu gehen, bricht die charismatische 25-jährige in Frankreich alle Zelte ab und reist nach Südkorea. Dort angekommen, macht sie sich auf die Suche nach ihren biologischen Eltern in einem Land, von dem sie kaum etwas weiß. Dank ihrer Art, Menschen für sich zu begeistern, gewinnt Freddie schnell Bekannte in den Bars der Stadt, und auch der Kontakt zu den biologischen Eltern ist schneller hergestellt als gedacht. Während Freddies Mutter kaum Interesse an einem Wiederaufleben der Beziehung zu haben scheint, sucht ihr Vater die Nähe der wiedergefundenen Tochter.
Eindrücklich zeigt der Film, wie zwiespältig die Beziehung zu einem Land sein kann, das auf irgendeine Art unweigerlich zu einem gehört, aber doch nicht in Gänze. Die meisten Menschen mit Migrationshintergrund oder alle, die längere Zeit in einem anderen Land als dem eigenen Heimatland gelebt haben, werden diese nie völlig überwindbare Distanz verstehen, die Freddie gegenüber Korea empfindet. (Teresa Vena, Kino-Zeit)
“Return to Seoul” is a startling and uneasy wonder, a film that feels like a beautiful sketch of a tornado headed directly toward your house. (Amy Nicholson, The New York Times)
In seinem fokussierten Minimalismus wirkt »RETOUR À SEOUL« zuerst sperrig und unverständlich. Aber in Wahrheit liegt alles offen zutage und lässt sich in Park Ji-Mins Gesicht ablesen: die widersprüchliche Situation eines Adoptionskinds wie Freddie, in einer Kultur geboren, in einer anderen aufgewachsen. […] Was simpel klingt, wird ein faszinierendes Porträt einer Identitätsfindung zwischen Culture Clash und Aneignung. (Barbara Schweizerhof, epd Film)
Acht Geschwister
Acht Geschwister, zwischen 1933 und 1943 geboren und behütet auf dem Land in Hinterpommern aufgewachsen, schafften es trotz vieler Hindernisse - unter anderem 40 Jahre Trennung durch die Mauer – immer den Kontakt zueinander zu halten. Ihre besondere Beziehung hat sie stets zusammenhalten lassen. Im hohen Alter machen sich die sechs Brüder und zwei Schwestern - Arno, Ewald, Johannes, Anita, Heinz, Waldemar, Edith und Werner – begleitet von Regisseur Christoph Weinert, auf den Weg in ihr Heimatdorf in Polen. Es ist das zweite Mal, dass sie hierher zurückkehren. 1992 haben sie mit ihrem damals 85-jährigen Vater den Ort besichtigt, mit dem sie, dem Krieg zum Trotz, die schönsten Erinnerungen verbinden. Es ist eine Reise zurück in die Kindheit auf dem Bauernhof. Und eine Reise durch 90 Jahre Geschichte der Familie Flemming, die weder die Flucht im zweiten Weltkrieg noch der Kalte Krieg oder die Trennung Deutschlands auseinanderbringen konnte. Eine außergewöhnliche und bewegende Familienchronik.
Es ist also reiches Material, sowohl an deutscher als auch an ganz privater Geschichte, das Weinert hier bearbeiten kann. … Weinert blendet sich als Fragenden aus; er lässt die Geschwister in wechselnden Konstellationen vor der Kamera erzählen, filmt sie beim Spaziergang durch den Wald, auf Parkbänken vor grüner Wiese allein oder zu zweit oder auch in einer Studiosequenz auf Stühlen sitzend alle zusammen. So bleibt das Erzählte ganz unter Familienregie – den einzelnen Anekdoten wird immer wieder die Betonung der geglückten Gemeinsamkeit an die Seite gestellt. (Barbara Schweizerhof, www.epd-film.de)
"Acht Geschwister" von Christoph Weinert. Eine Filmkritik von Simone Reber im RBB-Radio
Blue Jean
Großbritannien 1989: Die homophobe Stimmung im Land wird durch das neu erlassene Gesetz „Section 28” noch angeheizt, welches Schulen anweist, die Akzeptanz der Homosexualität nicht zu fördern. Für die Sportlehrerin Jean ändert sich nicht viel, denn sie führt schon lange ein Doppelleben: Tagsüber mimt sie die „normale” Frau von nebenan; in den Nächten hat sie Spaß in Gay-Clubs und führt eine heimliche Beziehung mit ihrer Partnerin Viv. Als die 15-jährige Lois neu in Jeans Klasse kommt, wird die Situation kompliziert. Lois ist anders als die anderen Schüler*innen und von Anfang an eine Außenseiterin. Als die Teenagerin eines Abends in Jean und Vivs Stamm-Lesbenkneipe auftaucht, sieht sich Jean in die Enge gedrängt. Ihr Geheimnis darf nicht auffliegen. Statt das junge queere Mädchen zu unterstützen, behandelt sie Lois kalt und lässt sie im Stich. Während Jean versucht, weiter ihre sorgfältig konstruierte Fassade aufrecht zu erhalten, wird ihr immer mehr bewusst, dass sie sich selbst verrät und auch ihre Beziehung mit Viv aufs Spiel setzt.
Georgia Oakleys Debütfilm wurde bei den British Independent Film Awards 2022 in 13 Kategorien nominiert und viermal ausgezeichnet. Unter anderem gewann Rosy McEwen als Beste Hauptdarstellerin.
Packend und vielschichtig erzählt Regisseurin Georgia Oakley in ihrem Debütfilm von einer zutiefst repressiven Zeit in Großbritannien, in der die Leben von zahllosen Lesben und Schwulen durch politische Entscheidungen maßgeblich eingeschränkt oder gar zerstört wurden. Zugleich zeugt „Blue Jean“ aber auch von der widerständigen Kraft einer queeren Gemeinschaft, die sich in Opposition gegen die Eiserne Lady und ihre konservative Regierung erst richtig formierte. (Quelle: Verleih Salzgeber)
Blue Jean gehört zu den Filmen, die in der Ära gedreht worden sein könnten, in der er spielt: Er erinnert stark an die 1980er-Jahre. Der 16mm-Film, auf dem er gedreht wurde, unterstreicht das Ganze und verleiht dem Film eine schöne Ästhetik. (Moira Frassanito, www.outnow.ch)
Unruh
Im schweizerischen Saint-Imier steht im Jahr 1877 die Welt buchstäblich Kopf. Der Fortschritt im Zuge der Industrialisierung soll auch die Uhrenherstellung revolutionieren – eine Entwicklung mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Folgen. Die bisherige Zeiteinteilung war stets abhängig vom jeweiligen Uhrenmodell, den Unternehmen und Behörden. So bestimmten diese völlig undurchsichtig über Arbeitszeiten in der Produktion sowie der Gesellschaft. In Saint-Imier wie auch anderswo in der Schweiz gab es deshalb unterschiedliche Zeitzonen: die Fabrikzeit des großen Uhrenherstellers, wo überwiegend Frauen die Uhrwerke auf hochfaszinierende Weise zusammensetzen; die Zeit vom Telegrafenamt und die Zeit der Gemeinde. Künftig soll es nur noch eine Zeit geben. Das politische Potenzial der neuen mechanischen Uhr erkennt auch die internationale Arbeiter*innenbewegung. Die Befreiung der Zeit aus den Händen der staatlichen Einrichtungen ist eng verknüpft mit ihrem Kampf gegen die Übermacht des Kapitals und den Nationalismus. Bei einem Treffen der anarchistischen Gewerkschaft von Uhrenmacher*innen trifft die Fabrikarbeiterin Josephine auf den russischen Kartografen Pyotr Kropotkin.
Rigorose Filmkunst, so präzise wie ein Schweizer Uhrwerk und so überraschend wie eine Wundertüte. (Dieter Oßwald, Programmkino)
Die schönste Entdeckung der Berlinale 2022. Das gilt eigentlich für alle Aspekte: Die anspruchsvolle und ausgefallene Machart, die interessante Themenkombination aus Uhrmacher-Industrie und Anarchisten-Bewegung, die wunderschönen Bilder und der frische Schauspiel-Cast an aufregenden Gesichtern. (Michael Müller, Kino.de)
Unruh zählt zum Besten, was der europäische Film aktuell zu bieten hat. (Fabian Tietke, taz.de)